Der Lettner

Ursprünglich war er zur Abgrenzung gedacht, der um 1230 entstandene Lettner in der Wechselburger Stiftskirche. Hinter dem Lettner war der Bereich für die Priester und Ordensleute, die dort in lateinischer Sprache beteten. Vor dem Lettner fand das gläubige Volk seinen Platz und betete auf Deutsch oder ganz still für sich. Dies ist nun schon langer Zeit anders: In Wechselburg beten wir immer zusammen – entweder alle gemeinsam vor dem Lettner oder alle gemeinsam dahinter im Chorgestühl der Apsis.

Was ursprünglich als Trennlinie zwischen Geistlichkeit und Volk gedacht war, ist heute ein bedeutendes Kunstwerk am Übergang von der späten Romanik hin zur frühen Gotik. Sowohl vom Thema als auch von den verwendeten Materialien her weist der Lettner eine Zweigliederung auf.

Getragen wird die aus Eichenholz geschaffene Triumphkreuzgruppe von einer Basis aus rötlichem Rochlitzer Porphyr, die den Betrachter an zentrale Personen der biblischen Heilsgeschichte heranführt. Der Lettner ist also nicht mehr ein Objekt der Trennung, sondern ein Zeugnis bildgewordenen Glaubens, das uns zur Meditation, zum Nachdenken und zum Gebet einlädt.

Wir begegnen zunächst zahlreichen Personen aus dem Alten Testament. Auch wenn sie scheinbar einfach neben einander stehen, folgen sie doch einer spirituellen Linie, die uns – vor dem Hintergrund moderner Theologie – als Gesamtwerk ansprechen kann.

Den Altar unter dem Kreuz, wo bereits im Mittelalter der Kreuzaltar stand, krönen im Bogen darüber die beiden Brüder Abel und Kain. Während Abel als Hirte Gott ein Schaf zum Opfer hinhält, bringt Kain als Ackerbauer Getreideähren als Opfer dar. Moderne Interpreten sehen darin bereits einen ersten Unterschied in der Glaubenshaltung der beiden Brüder: Während Abel als Hirte und Nomade viel unmittelbarer auf den täglichen Segen Gottes in Form von Wasser und Weide für seine Herde vertraut, sichert sich sein Bruder als sesshafter Ackerbauer tendenziell eher ab und möchte mit festen Erntezeiten rechnen. Der biblische Bericht verschärft diesen Kontrast: Das Opfer Abels wird von Gott angenommen, während die Gabe seines Bruders Kain nicht beachtet wird. Kain wertet dies als Zurücksetzung durch Gott und tötet aus Eifersucht seinen Bruder Abel.

Flankiert werden die beiden Brüder und damit der heutige Altar der Klosterkirche links von Abraham und rechts von Melchisedek. Auf diese Weise nehmen die Worte aus dem – heute als Erstem Eucharistischen Hochgebet oder Römischen Messkanon bezeichneten – Gebet Gestalt an, wenn über der Priester über die gewandelten Opfergaben spricht : „Blicke versöhnt und gütig darauf nieder und nimm sie an wie einst die Gaben deines gerechten Dieners Abel, wie das Opfer unseres Vaters Abraham, wie die heilige Gabe, das reine Opfer deines Hohenpriesters Melchisedek.“

Abraham lebt uns nach dem Zeugnis der Heiligen Schrift vor, was es heißt, Gott ein wohlgefälliges Opfer darzubringen. Es geht nicht in erster Linie darum, auf ein materielles Gut zu verzichten, sondern den Willen Gottes im Leben zu erfüllen: „Geh fort aus deinem Land, aus deiner Verwandtschaft und aus deinem Vaterhaus in das Land, das ich dir zeigen werde.“ (Gen 12,1). In der Konsequenz seines absoluten Vertrauens ist er sogar bereit, Gott in der Person seines einzigen Sohnes Isaak seine eigene Zukunft anzuvertrauen.

Die Bibel erzählt von einer Begegnung Abrahams mit dem Priester Melchisedek: „Melchisedek, der Priester von Salem, brachte Brot und Wein heraus. Er war Priester des Höchsten Gottes. Er segnete Abram und sagte: Gesegnet sei Abram vom Höchsten Gott, dem Schöpfer des Himmels und der Erde, und gepriesen sei der Höchste Gott, der deine Feinde an dich ausgeliefert hat.“ (Gen 14,18-20a) Der Kelch in Händen weist den rechts vom Altar stehenden Mann als Priester aus.

Melchisedeks Priestertum ist eigenständig und unmittelbar von Gott ins Werk gesetzt. Damit unterscheidet er sich von der späteren Priesterschaft des Alten Bundes, die in der leiblichen Abstammung vom Priester Aaron begründet ist. Psalm 110,4b bezieht dessen direkt von Gott begründetes Priestertum auf den ersehnten Messias: „Du bist Priester auf ewig nach der Ordnung Melchisedeks.“ Diese Linie führt der Hebräerbrief im Neuen Testament weiter. Melchisedek wird dort als Abbild Christi, des wahren Hohenpriesters, gedeutet und zugleich mit Abraham – wie im Wechselburger Lettner auch – in Beziehung gesetzt: „Dieser Melchisedek (…), dessen Name König der Gerechtigkeit bedeutet und der auch König von Salem ist, das heißt König des Friedens; er, der vaterlos, mutterlos und ohne Stammbaum ist, ohne Anfang seiner Tage und ohne Ende seines Lebens, ähnlich geworden dem Sohn Gottes: Dieser Melchisedek bleibt Priester für immer. (…) Jener Melchisedek aber hat Abraham, den Träger der Verheißungen, gesegnet.“ (vgl. Hebr 7,1-10)

Mit diesen drei Personen – Abel, Abraham und Melchisedek – führt der Wechselburger Lettner in seiner Porphyrbasis ein Thema ein, das in der Reihe darüber weitergeführt wird: Diese Drei werden dargestellt, weil sie – wie es das im Mittelalter verwendete Hochgebet der Hl. Messe bekennt – als die drei Urbilder eines opfernden Menschen gesehen werden. Sie verzichten nicht nur auf eine von Menschen festgelegte materielle Größe, sondern vertrauen sich Gott ganz und gar an. Das ist der Wesenskern des Priesters vom Anbeginn der Hl. Schrift: Er ist ganz auf Gott hin ausgerichtet und steht stellvertretend für das Volk vor Gott, um für die Menschen vor Gott einzutreten und um zugleich Gottes Beistand und Kraft für die ihm anvertrauten Menschen zu erbitten.

Ihre Nähe zum Altar begründet die Position der drei Opfernden im Wechselburger Lettner. In der Reihe über ihnen stehen vier Repräsentanten der anderen großen Mittlergestalten des Alten Bundes: Es sind mit David und Salomo zwei Könige auf der Innenseite und außen zwei Propheten – links der junge Daniel und außen ein durch seinen Bart als alter Gottesmann ausgewiesener Prophet.

Daniel steht nach dem Zeugnis des Buches Daniel für Gottvertrauen, Standhaftigkeit im Glauben, Weisheit und für die endzeitliche Hoffnung auf das Königtum Gottes. Wie Gott ihn in der Löwengrube vor dem Tod bewahrt hat, so dürfen sich die vor dem Wechselburger Lettner betenden Menschen ebenfalls den Schutz Gottes in ihrer Bedrängnis erhoffen.

Als Prophet hat Daniel die Aufgabe, vor den Menschen für Gott zu sprechen; zugleich steht er stellvertretend für die Menschen vor Gott. Nicht seine eigenen Gedanken sind es, die ein Prophet weitergeben soll, sondern das Wort Gottes. Durch sein Wort und sein ganzes Wesen soll er ein Mittler sein zwischen Gott und den Menschen. Er ist ein „berufener Rufer“.

Der Prophet rechts außen wird wohl wegen seines Alters bisweilen als Ezechiel identifiziert, jedoch kann er mit seiner Schriftrolle in Händen offen sein für jeglichen Propheten. Vielleicht auch für uns? Auch wir sind dazu berufen, den Glauben zu bezeugen – auch unter Einsatz unseres Lebens – und ihn weiterzugeben.

Neben diesen beiden Propheten stehen in der Reihe innen die beiden Könige David und Salomo. Zepter und Harfe weisen David als König und Psalmendichter aus. Der andere ebenfalls noch junge König ist Salomo. Dass der Wechselburger Lettner beide zusammen darstellt, findet eine Parallele in der mittelalterlichen Reichskrone, die die beiden ebenfalls als Bildelement enthält. Auch dort sind sie zusammen mit dem in seiner Majestät thronenden Christus zu sehen. Sie stehen für Gottvertrauen, Weisheit und Gerechtigkeit. Dass sie in Wechselburg ganz nahe beim thronenden Christus dargestellt sind, stellt eine Parallele zur Bildgestaltung des Kaiserkrone dar: Dort stehen bei der Christus-Darstellung die Worte: „Per me reges regnant – Durch mich herrschen die Könige.“

David und Salomo gelten aber auch als Beispiele für menschliche Unzulänglichkeit und Schuld. Bei aller Größe ihrer Berufung und ihres Königsamtes haben sie doch auch menschlich versagt: David wurde zum Ehebrecher und Mörder, Salomo begünstigte Glaubensabfall und Götzenkult mitten in Israel. So stehen beide für die Größe und für die Schwäche des Menschen zugleich. Gerade in dieser Gebrochenheit ist ihnen der Dienst der Mittlerschaft anvertraut. Sie sind von Gott beauftragt, für sein Volk zu sorgen und analog den Priestern und Propheten stellvertretend für ihr Volk vor Gott zu treten. Salomo hat dies in seinem Gebet zur Weihe des Tempels in Jerusalem so ausgedrückt: „Höre im Himmel, dem Ort, wo du wohnst, ihr Beten und Flehen! Verschaff ihnen Recht und verzeih deinem Volk, was es gegen dich gesündigt hat. (…) Lass sie bei ihren Unterdrückern Mitleid und Erbarmen finden! Sie sind ja dein Volk und dein Eigentum, das du aus dem Schmelzofen, aus Ägypten herausgeführt hast. (…) Erhöre sie, sooft sie zu dir rufen.“ (vgl. 1 Kön 8,49-53)

Damit sind wir nun beim Zentrum der Lettnerbasis angelangt, bei der Kanzel, von der auch heutzutage in der Osternacht das feierliche Osterlob, das Exsultet, gesungen wird. Die Brüstung der Kanzel zeigt uns Christus als den thronenden Weltenrichter – umgeben von den Symbolen der vier Evangelisten. Der am Kreuz leidende Jesus und der Weltenherrscher sind ein und derselbe. Seine Passion am Kreuz erhält ihre erlösende Kraft nicht dadurch, dass er als Mensch, der einfach zu gut für diese Welt war,scheiterte, sondern weil er der Sohn Gottes ist, der sich um unseretwillen entäußert, auf seine göttliche Macht verzichtet hat. Der auf dem Thron sitzende Pantokrator ist ein Richter, der nicht einfach verurteilt, sondern er ist ein Richter der Barmherzigkeit. Er urteilt nicht ab, sondern richtet auf und macht wieder „richtig“, was wir durch unsere Schuld zerbrochen haben. Deshalb ist es eine tiefe Glaubensaussage, wenn auf dem Wechselburger Lettner beide Christusdarstellungen genau übereinander dargestellt sind. Beide gehören unlösbar zusammen.

Von zwei weiteren biblischen Figuren wird der thronende Christus begleitet: Von seiner Mutter Maria und von Johannes dem Täufer. Verweilen wir einen längeren Moment bei ihnen beiden:

Rechts eben dem thronenden Herrn steht Johannes – zu Christus hingewendet, mit seiner Hand auf ihn hinweisend. Das härene Gewandstück vor seiner Brust weist ihn als Bußprediger in der Wüste aus.

Seine Lebensaufgabe war es, auf den kommenden Herrn hinzuweisen. Er rief die Menschen zu Buße und Umkehr auf. Seine aufrüttelnde Predigt verfehlte ihre Wirkung nicht: “Da fragten ihn die Leute: Was sollen wir also tun? Er antwortete ihnen: Wer zwei Gewänder hat, der gebe eines davon dem, der keines hat, und wer zu essen hat, der handle ebenso. Es kamen auch Zöllner zu ihm, um sich taufen zu lassen und fragten: Meister, was sollen wir tun? Er sagte zu ihnen: Verlangt nicht mehr, als festgesetzt ist. Auch Soldaten fragten ihn: Was sollen denn wir tun? Und er sagte zu ihnen: Misshandelt niemand, erpresst niemand, begnügt euch mit eurem Sold!“ (Lk 3,10-14)

Das ist zwar noch nicht die hohe Ethik der Bergpredigt Jesu, sondern eher eine „Ethik der Anständigkeit“. Jesus wird mit seiner Forderung nach Feindesliebe und Vergebung weiter gehen. Würde aber die Mahnung des Täufers von allen Menschen gelebt, sähe unsere Welt anders aus.

Johannes war sich seiner Vorläuferrolle bewusst. Als er Jesus tauft, macht er sich klein: „Ich müsste von dir getauft werden, und du kommst zu mir?“ (Mt 3,14)

„Er muss wachsen, ich aber muss kleiner werden.“ (Joh 3,30) Das ist das Wort des Täufers zum Bild in unserer Klosterkirche. Er weist ganz auf den Größeren hin, auf den Messias Jesus Christus – und dies nicht nur mit seiner aufrüttelnden Predigt und seiner Bußtaufe am Jordan, sondern auch durch seinen gewaltsamen Tod. König Herodes lässt ihn ins Gefängnis werfen und enthaupten, Johannes geht Jesus auch im Tod voraus.

Einen weiteren Aspekt im Leben des Täufers deutet der Evangelist Matthäus an: „Bist du der, der kommen soll, oder müssen wir auf einen andern warten?“ Mt 11,3 Das ist das Letzte, was wir im Matthäus-Evangelium  aus dem Mund des Täufers hören. Johannes stirbt mit einer Frage. Damit „raut“ das Evangelium gleichsam das Bekenntnis zu Jesus Christus als dem erwarteten Messias auf: Johannes weist ganz auf IHN hin und er hält zugleich die suchende Frage aus: „Bist du der …?“ Damit ermutigt er uns heute in unseren Fragen!

Auf der linken Seite steht Maria neben dem Thron Gottes. Sie ist ganz nahe bei ihm – jetzt schon als erste der Entschlafenen. In ihrer Nähe zu Christus ist sie zugleich auch uns nahe – als unsere Fürbitterin und Fürsprecherin.

Der Wechselburger Lettner drückt dies künstlerisch sensibel und theologisch erstaunlich präzise aus:

Maria steht neben ihrem Sohn, nicht vor ihm oder gar zwischen ihm und uns. Sie „schiebt“ sich nicht dazwischen. Jeder Mensch kann Christus unmittelbar begegnen. Jeder von uns hat direkten Zugang zu ihm. Maria sieht aber dabei liebevoll zu, sie verstärkt unser Gebet und weitet es, das allzu oft unbeholfen, eng und vielleicht auch selbstbezogen ist.

Über der in Stein gemeißelten Gottesmutter steht neben dem gekreuzigten Christus Maria als Schmerzensmutter. Sie lebt die Compassion, leidet mit ihrem Sohn und mit allen, die ihm in Leid und Kreuz verbunden sind.

Maria leidet mit uns und setzt sich als Fürsprecherin für uns ein. Diese beiden elementaren Aufgaben der Gottesmutter stellt uns der Lettner vor Augen – als Ermutigung für uns und Aufruf, es ihr gleichzutun!

Nachdem wir nun die Mitte des Lettners betrachtet haben, bleibt nun uns noch einige “Seitenblicke“ auf den Lettner. An beiden Seiten finden wir eine alttestamentliche Szene, die in einem spirituellen Bezug zur Kreuzigungsgruppe steht:

Rechts außen ist als Relief Abrahams Opfer (Gen 22) dargestellt: Abraham wird von Gott auf eine harte Glaubensprobe gestellt. Als Erweis seines Vertrauens auf Gott soll er seinen einzigen  Sohn Isaak opfern, ihn, der ihm erst in hohem Alter geboren wurde, als er nicht mehr auf einen leiblichen Sohn zu hoffen wagte. Grausam und unbarmherzig scheint dieser Gott zu sein, der solches von einem Vater verlangt. Doch Gott will kein Blutvergießen, will keine blutigen (Menschen-)Opfer, schon gar nicht das eines Kindes, Gott sucht vielmehr unser Vertrauen – unseren Glauben als persönliche Beziehung zu ihm.

Aus seiner Heimat Ur in Chaldäa hat er ihn herausgerufen und Abraham folgte seinem Ruf, verließ sein Vaterhaus, seine Sippe, seinen Volksstamm – sein komplettes Netzwerk, das ihm Halt, Absicherung und Geborgenheit hätte geben können. So vertraut Abraham Gott seine ganze Vergangenheit an. Abraham lässt sich von Gott in ein neues, ihm unbekanntes Land führen und vertraut ihm so in der Gegenwart. Und nun prüft ihn Gott, ob er ihm auch seine Zukunft – seinen einzigen Sohn und Erben – anvertraut. Als Abraham zeigt, dass er bereit ist dies zu tun, hält ihn Gott durch einen Engel zurück und stellt einen Widder als Ersatzopfer bereit.

Die Wechselburger Reliefdarstellung von Abrahams Opfer ist bei aller romanischen Strenge von einer ergreifenden Dynamik geprägt: Damit sein Sohn den tödlichen Messerstich des Vaters nicht mitansehen muss, hält der Vater Isaak mit seiner Hand die Augen zu. Auf der anderen Seite der Darstellung hält ein Engel als Bote Gottes bereits Abraham von seinem Opfer zurück. Mit nur einem Finger hält der Engel das schon gezückte lange Messer zurück, stattdessen wird der Widder, der sich im Gestrüpp verfangen hat, zum Brandopfer werden.

Christliche Frömmigkeit hat Abrahams Opfer schön früh als Vorausdeutung des Kreuzwegs Christi gesehen: Wie Isaak das Holz für das Brandopfer auf den Berg Morija, so trägt Jesus das Kreuz zum Berg Golgotha hinauf. Drei Tage dauert der Opfergang Abrahams, bevor der befreiende Ruf vom Himmel ertönt : „Abraham, Abraham, streck deine Hand nicht gegen den Knaben aus und tu ihm nichts zuleide! Denn jetzt weiß, dass du Gott fürchtest; du hast mir deinen Sohn, deinen einzigen, nicht vorenthalten.“ (vgl. Gen 22,11f.) Drei Tage wird Christus im Grab ruhen, bis er von den Toten auferweckt wird. Den Menschen der Romanik waren diese Bezüge aus Predigt und Kunst gut vertraut.

Diese Vertrautheit dürfen wir auch bei der auf der linken Seite als Relief dargestellten Geschichte aus dem Alten Testament voraussetzen: Mose weist auf die „Eherne Schlange“ hin, durch deren Anblick die Israeliten auf ihrer Wanderung durch die Wüste gerettet werden.

„Das Volk verlor auf dem Weg die Geduld, es lehnte sich gegen Gott und gegen Mose auf und sagte: Warum habt ihr uns aus Ägypten herausgeführt? Etwa damit wir in der Wüste sterben? Es gibt weder Brot noch Wasser und es ekelt uns vor dieser elenden Nahrung. Da schickte Herr Feuerschlangen unter das Volk. Sie bissen das Volk und viel Volk aus Israel starb. Da kam das Volk zu Mose und sagte: Wir haben gesündigt, denn wir haben uns gegen den Herrn und gegen dich aufgelehnt. Bete zum Herrn, dass er uns von den Schlangen befreit! Da betete Mose für das Volk. Der Herr sprach zu Mose: Mach dir eine Feuerschlange du häng sie an einer Stange auf! Jeder, der gebissen wird, wird am Leben bleiben, wenn er sie ansieht. Mose machte also eine Schlange aus Kupfer und hängte sie an einer Stange auf. Wenn nun jemand von einer Schlange gebissen wurde und zu der Kupferschlange aufblickte, blieb er am Leben.“ (Num 21,4-9)

Jesus bezieht in seinem Gespräch mit Nikodemus diese Geschichte auf sich und seinen Tod am Kreuz: „Wie Mose die Schlange in der Wüste erhöht hat, so muss der Menschensohn erhöht werden, damit jeder, der glaubt , in ihm ewiges Leben hat.“ (Joh 3,14f.)

Die Heilung, welche die Israeliten durch den Blick auf die „Eherne Schlange“ fanden, ist eine Vorausdeutung für das Heil und die Erlösung, die Christus durch seinen Tod am Kreuz, also ebenso „erhöht“ am Holz hängend, erwirkt hat. Der Gläubige erfährt Heilung und Segen, wenn er auf den Gekreuzigten blickt wie die Israeliten auf die Schlange.

Nun bleiben noch zwei kleine Details, die sich jeweils in Augenhöhe zum Betrachter auf beiden Seiten des Lettners finden:

Ganz innen neben dem Kreuzaltar finden wir fast verborgen auf jeder Seite ein menschliches Gesicht. Auf der linken Seite ein freundlich und offen blickendes Gesicht und auf der rechten Seite vom Altar abgekehrt ein ablehnend und verbittert blickendes. Die Deutung dieser beiden Gesichter ist schwer, da sie bisher noch in keinem Kunstführer betrachtet wurden. Sollen sie vielleicht eine Leerstelle für uns, die Betrachter sein?  Wer von den beiden bin ich? Der offene, positive Mensch, der von „gutem Eifer“ erfüllt ist, oder der ablehnende, negative, der vom „bösen Eifer“ geprägt, wie es der hl. Benedikt in seiner Mönchsregel (RB 72) gegenüberstellend sieht? Gewiss eine Anfrage an uns!

Am Ende unseres spirituellen Rundgangs durch den Wechselburger Lettner haben wir gleichsam eine optische Wallfahrt durch die Heilsgeschichte durchlebt. Zum Abschluss sehen wir ganz außen je einen Engel – in der strengen, klaren Haltung der Romanik. Ein „Engel – Angelus“ ist ein „Gesandter“, ein Bote. In der Bibel gilt das für die Geistwesen, die nicht an Raum und Zeit gebunden sind. Sie werden von Gott ausgesandt, um uns zu beschützen, zu ermutigen und auch zu warnen.

Aber auch jeder Mensch kann das für einen anderen sein. „Du bist mein Schutzengel!“ oder „Du bist ein Engel!“ sagen wir, wenn wir einem Menschen sehr dankbar sind und uns über ihn freuen.

„Engel“ in diesem Sinn gibt es viele unter uns, etwa Menschen, die anderen in schweren Zeiten beistehen. Für uns Christen steht dahinter ein tiefes Vertrauen: „Wer glaubt, ist nie allein“ (Papst Benedikt XVI.). Erfahren lässt Gott uns seine Nähe jedoch nicht so sehr durch übersinnliche Erlebnisse, sondern durch andere Menschen, die uns im Alltag mit Rat und Tat weiterhelfen. Diese beiden Engel im Wechselburger Lettner, die so demütig und bescheiden auf der Seite stehen,  erinnern uns also daran, dass Gott uns immer nahe ist, uns behütet und beschützt.

P. Maurus Kraß OSB