Die Vorhalle

Zentrale Themen der christlichen Glaubensbotschaft sind in der Wechselburger Stiftskirche Gestalt geworden: Christus steht im Mittelpunkt – sowohl in der Triumphkreuz-Gruppe wie auch in der Basis des Lettners aus Rochlitzer Porphyr, wo Christus als der Weltenrichter und Pantokrator aufscheint. Da sich die slawisch geprägte Region um das neugegründete Kloster Zschillen herum sich anfangs bei der Annahme des Christentums noch schwertat, bestand aus Gründen der Katechese und der ursprünglichen Glaubensverkündigung Grund genug, sich bei der künstlerischen Ausgestaltung der Klosterkirche auf elementare Inhalte der Verkündigung zu konzentrieren. So sehen wir unter den Kunstwerken der ersten romanischen Zeit keine Heiligendarstellungen, sondern betrachten immer Motive, die christozentrisch geprägt sind oder aus der Heilsgeschichte des Gottesvolkes auf Ihn hinweisen.

Dieser Gang durch die christliche Glaubenswelt beginnt bereits in der  Vorhalle der Kirche mit ihrem seitlichen Doppelportal. Die beiden tympanonartigen Giebelreliefs über den Eingangstüren beantworten die grundlegende Frage: Wer ist Gott?

Bildhaft und symbolisch wird links die Antwort gegeben: Gott ist allmächtig. Der Löwe als das mächtigste Tier der Bibel („Löwe aus Juda“) kämpft gegen das mächtige Böse, den Drachen und besiegt ihn und zwar mit „links“! Dass der Drache im Laufe der Jahrhunderte einen dunklen Fleck über seinem Auge bekommen hat, kommt dramatisch günstig hinzu.

Doch dies ist nur die Hälfte der Antwort: Gott ist nicht nur der Allmächtige, sondern er ist der, der sich in seinem Sohn ohnmächtig gemacht hat, um uns zu erlösen.  Dies bezeugt das Relief über dem rechten Seitenportal, das uns das Lamm Gottes mit dem Kreuzesstab in der Hand zeigt. Das Lamm ist das schwächste Tier in der Bibel. Es kann nicht fliehen, kann sich nicht wehren; es ist den Nachstellungen des Bösen machtlos ausgeliefert – aus Liebe zu uns Menschen. So ist Gott: In ihm kommen Allmacht und Liebe zusammen. Bei uns Menschen streben Macht und Liebe allzu oft auseinander, bei Ihm bilden sie eine unlösbare Einheit. Weil Gott barmherzig ist, brauchen wir seine Allmacht nicht zu fürchten, und seine Barmherzigkeit ist deshalb der tragende Grund unseres Glaubens, weil dahinter Seine Allmacht steht.

Das Lamm Gottes ist in auffallender Weise durch zwei Ornamente eingerahmt, die keltisch anmuten. Wie kommt dies dazu? Das linke Ornament ist ein sog. „Kippbild“, d.h. mehrere Bilder sind in einem zugleich verbunden. Je nachdem, worauf man sich innerlich einstellt, erkennt man das eine oder das andere. In diesem Falle liegen sogar drei Bilder übereinander: Drei mandelförmige Ellipsen sind miteinander verflochten – ein Symbol für die Dreifaltigkeit Gottes von Vater, Sohn und Hl. Geist . In der Mitte ist auch ein Kreis erkennbar, der die Einheit Gottes ausdrückt. Schließlich kann mach auch die Fische wahrnehmen – wiederum ein Trinitätssymbol – die ihre Köpfe nach außen strecken. Ist dieses „Kippbild“ vielleicht schon als solches ein Zeichen für den Glauben? Jeder Mensch kann ihn sehen, aber um seine Tiefe wahrnehmen zu können, bedarf es eines inneren Zugangs, zu dem wir uns gegenseitig verhelfen können, der aber letztlich ein Geschenk ist.

Das Ornament rechts des Lammes weist dagegen eine Vierer-Struktur auf; vier Quadrate sind miteinander verflochten. Vier ist im Gegensatz zur Drei eine Zahl mit menschlicher oder kosmischer Symbolbedeutung: Wir kennen vier Himmelsrichtungen, vier Jahreszeiten, vier Lebensalter, vier Elemente und vier Temperamente.

Addiert man drei mit vier, ergibt dies sieben als Heilige Zahl (z. B. sieben Sakramente), multipliziert man diese, kommt man auf zwölf, ebenfalls eine Heilige Zahl (z.B. zwölf Stämme Israels, zwölf Apostel), die wiederum in der Bibel – besonders in der Apokalyptik- , in vielfacher Weise miteinander weiter kombiniert werden.

Getragen wird diese romanische Eingangshalle der Wechselburger Kirche durch 14 Porphyrsäulen, die alle zwar gleich an Höhe und Umfang geformt sind, aber alle individuell verziert sind. Insbesondere die sieben Säulen an der Seite bei den Eingangsportalen zur Kirche sind kunstvoll verziert, wiederum jede ganz anders. Der Grund dafür mag sein, dass die Steinmetze hier ihre künstlerische „Visitenkarte abgeben durften“, d.h. eine Säule in ihrer „Lieblingsdeco“ gestalten durften. Den Kunsthistorikern gelingt es dadurch, zumindest bei manchen herauszufinden, woher diese stammten. Sie kamen aus Frankreich, Niedersachsen und Sachsen selbst; sie waren eine reisende Zunft und gingen von Auftrag zu Auftrag weiter, denn leichter kommt der Steinmetz zu den Steinen als umgekehrt. Der Kirchenbau von Wechselburg bekommt damit eine europäische Note.

Für uns heute stellt diese Vielfalt in der Gestaltung der Säulen eine symbolische Einladung zum Engagement in der Kirche dar: So wie diese Säulen in Hinblick auf die Statik alle ihre Funktion in gleicher Weise sicher erfüllen, aber eben nicht gleichförmig, sondern individuell geprägt, so sind auch wir dazu eingeladen, in der Kirche mitzutragen und zwar nicht gleichförmig, sondern in unserer persönlich und individuell geprägten Weise – lebendige Kirche in Vielfalt!

Diese Säulen sind zugleich eine gedankliche Brücke zum Inneren der Kirche. Betritt man die Wechselburger Basilika, fällt der Blick nach vor dem Lettner auf die mächtige Säule, die die Empore stützt. Ohne jede bildhafte oder religiöse Gestaltung ist sie durch ein Zick-Zack-Muster und am Kapitell durch gemeißelte Akanthusblätter verziert – und doch birgt sie in sich eine religiöse Botschaft. Folgt man den so gemeißelten Rillen und umrundet die Säule einmal, stellt man fest, dass man zwei Stufen höher wieder ankommt. Dies ist eine bewusste Gestaltung durch einen Steinmetz des 12. Jahrhunderts. Er wollte die Linien ansteigen lassen. Wir können darin seine Botschaft erkennen: Unser Leben ist ein stetes Auf und Ab. Wir erleben Zeiten des Gelingens und des Scheiterns, frohe und traurige Tage, Phasen der Zuversicht und der Niedergeschlagenheit. Doch die Linien steigen an, es ist kein ödes Auf und Ab auf dem ständig-selben Niveau. Es gibt ein Ansteigen; auf ein Menschenleben gesehen, entwickeln wir uns durch das stete Auf und Ab manchmal unbemerkt weiter: Durch die Erfahrung von Gelingen und Scheitern, Freude und Trauer hindurch werden wir weiser, gelassener, tiefer. Eine faszinierende Erfahrung, dass ein namenloser Steinmetz des 12. Jahrhunderts eine ähnliche Lebenserfahrung gemacht wie wir und durch dieselbe Hoffnung mit uns heute verbunden ist!